Filesharing: Großeltern haften nicht für 11-jährigen Enkel

Filesharing durch das Enkelkind über den Internet-Anschluss der Großeltern und Haftung des Großvaters als Anschlussinhaber – das Landgericht Frankfurt am Main entschied mit Urteil vom 29.10.2020, Az. 2-03 O 15/19: Hält sich der 11-Jährige Enkel über ein Wochenende beim Großvater auf, begründet dies noch keine stillschweigende, vertragliche Übernahme einer Aufsichtspflicht nach § 832 BGB. Der Großvater haftet deshalb nicht, wenn das Enkelkind über eine P2P-Tauschbörse illegales Filesharing betreibt. Aber auch das Enkelkind haftet nicht, weil ihm Einsichtsfähigkeit nach § 828 Abs. 3 BGB fehlen kann, dass es gegen Urheberrecht verstößt, wenn es ein Computerspiel mittels „bittorrent“-Software herunterlädt und dadurch zugleich weiterverbreitet.

Sachverhalt: Worum geht es?

Es geht um Schadensersatz und Abmahnkosten nach Filesharing eines Computerspiels.

Die Klägerin ist auf dem Datenträger des Computerspiels mit einem „©“-Vermerk (Copyright-Hinweis) als Rechteinhaberin bezeichnet.

Beklagt waren der Großvater als Anschlussinhaber und dessen Enkel.

Am 18.01.2014 und 19.01.20214 hielt sich der damals 11-jährige Enkel über das Wochenende bei seinem Großvater auf. Mit Hilfe der Filesharing-Software „bittorrent“ lud der Enkel das Computerspiel über den Internetanschluss seines Großvaters herunter. Aufgrund der Funktionsweise von P2P-Netzwerken hielt der Enkel das Computerspiel damit zugleich auch zum „Download“ für andere Nutzer bereit, machte das Spiel also öffentlich zugänglich.

Das Computerspiel kostete damals im Einzelhandel zwischen 40 € und 60 €. Der Preis über den Bezugsweg des Downloads betrug ca. 40 €.

Die spätere Klägerin mahnte sowohl den Großvater wie auch den Enkel ab. Sie verlangte von den beiden unter anderem den Ersatz der Abmahnkosten und Schadensersatz. Beide verweigerten die Zahlung.

Die Klägerin leitete deshalb sowohl gegen den Großvater als Anschlussinhaber wie auch gegen den Enkel als Täter der Rechtsverletzung Gerichtsverfahren ein. Zuletzt beantragte die Klägerin,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag von 984,60 € nebst Zinsen als Ersatz der Abmahnkosten zu zahlen;

die Beklagten außerdem als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin einen weiteren Betrag über 900,00 € nebst Zinsen als Schadensersatz zu zahlen.

Ergebnis: Wie entschied das Gericht?

Das Landgericht Frankfurt am Main wies die Klage als unbegründet ab. Die Klägerin habe gegen beide Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz bzw. Erstattung der Abmahngebühren gemäß den §§ 97 Abs. 2, 97a UrhG, 832 BGB i.V.m. § 840 BGB.

_ Aktivlegitimation der Klägerin

Zwar sei die Klägerin aktivlegitimiert, also berechtigt, die hier streitigen Geldforderungen vor Gericht geltend zu machen. Dies ergebe sich aus dem ©-Hinweis auf dem Cover und der DVD des Computerspiels:

„Nach § 10 Abs. 3 UrhG begründet dies grundsätzlich die Vermutung, dass der Anspruchsteller Inhaber der ausschließlichen Nutzungsrechte ist. Zwar kann sich die Klägerin hier auf diese Vermutungswirkung nicht berufen, da sie keine Unterlassungsansprüche geltend macht. Dennoch stellt der ‚©‘-Vermerk ein Indiz für die Rechteinhaberschaft der Klägerin dar. Zudem hat die Klägerin in der Anlage K1 (Bl. 108 ff. d.A.) einen entsprechenden Vertrag vorgelegt, aus dem sich eine ausschließliche Einräumung von Nutzungsrechten ergibt. Angesichts der Indizwirkung des ‚©‘-Vermerks und der vorgelegten Unterlagen oblag es hier den Beklagten, sich nicht lediglich auf ein pauschales Bestreiten zu beschränken.“

_ Keine Haftung des Großvaters wegen Aufsichtspflichtverletzung

Dem Großvater könne keine Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 832 BGB vorgeworfen werden, und zwar weder eine Verletzung einer gesetzlichen Aufsichtspflicht noch einer vertraglichen Aufsichtspflicht:

„Den Beklagten zu 1) trifft als Großvater des Beklagten zu 2) keine gesetzliche Aufsichtspflicht gemäß § 832 Abs. 1 BGB, da diese die Eltern des Beklagten zu 2) bis zu dessen Volljährigkeit traf.

Eine Haftung des Beklagten zu 1) kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Aufsichtspflicht durch eine etwaige vertragliche Übernahme gemäß § 832 Abs. 2 BGB in Betracht.

Für die vertragliche Übernahme genügt bereits eine stillschweigende Übereinkunft (OLG Celle NJW-RR 1987, 1384; LG Bremen NJW-RR 1999, 969). Eine tatsächliche Übernahme genügt nicht (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 79. Aufl. 2020, § 832 Rn. 6). An die Annahme einer konkludenten Übernahme der Aufsichtspflichten sind strenge Anforderungen zu stellen, um überraschende Haftungslagen für den Dritten zu vermeiden und ihm die Möglichkeit der Absicherung und Schadensvorsorge einzuräumen (vgl. Spindler in: BeckOK BGB, Hau/Poseck, 55. Edition, Stand: 01.08.2020, § 832 Rn. 13). Indizien, die im Einzelfall für eine stillschweigende Übereinkunft sprechen können, sind z.B. die Entgeltlichkeit der Aufsichtsübernahme oder die Frage, inwieweit die Einräumung einer umfassenden Personenfürsorge mitsamt der Erziehung gewollt ist. Demgemäß genügt für eine konkludente Übernahme der gesetzlichen Aufsichtspflichten nicht bereits das gemeinsame Spiel von eigenen und fremden Kindern bei einer Mutter und die damit verbundene Aufsicht (BGH NJW 1968, 1874), ebenso wenig die Beaufsichtigung der Kinder durch einen Familienangehörigen (Palandt/Sprau, a.a.O., § 832 Rn. 6), außer, die Aufsicht über das Kind wird für längere Zeit infolge der räumlichen Trennung unmöglich (OLG Celle VersR 1986, 972), etwa bei Ferien bei den Großeltern (vgl. Spindler in: BeckOK BGB, a.a.O., § 832 Rn. 13).

Der Aufenthalt des damals 11-jährigen Beklagten zu 2) an einem Wochenende bei seinem Großvater, dem Beklagten zu 1), führt schon aufgrund der Kürze des Aufenthaltes zu keiner Aufsichtspflicht des Beklagten zu 1) im Sinne des § 832 Abs. 2 BGB, wobei dahingestellt bleiben kann, ob nach dem – bestrittenen – Vortrag der Beklagten, sich der in M von der Mutter des Beklagten zu 2) getrennt lebende Vater an diesem Wochenende ebenfalls mit seinem Sohn im Haus seines Vaters, dem Beklagten zu 1), in B aufhielt. Eine Beaufsichtigung des minderjährigen Kindes durch einen Familienangehörigen reicht regelmäßig nicht aus, solange keine Aufsicht über das Kind für längere Zeit infolge der räumlichen Trennung zu den Erziehungsberechtigten vorliegt. In diesem Zusammenhang genügt die für das Bestehen einer Aufsichtspflicht des Beklagten zu 1) darlegungs- und beweispflichtigen Klägerin (vgl. Palandt/Sprau, a.a.O., § 832 Rn. 15; Wagner in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 832 Rn. 45) ihrer Darlegungspflicht nicht, wenn sie entsprechenden gegenteiligen Vortrag der Beklagten lediglich mit Nichtwissen bestreitet. Darüber hinaus scheiden die klägerseits angebotenen Beweismittel auf Parteivernehmung der beiden Beklagten angesichts der Subsidiarität gegenüber einem Zeugenbeweis aus. Vorliegend kämen die Eltern des Beklagten zu 2) insoweit als Zeugen in Betracht.“

Den Großvater treffe auch keine Haftung als Störer:

„Da eine Inanspruchnahme des Beklagten zu 1) auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Störerhaftung in Betracht kommt, scheiden sowohl ein Schadensersatzanspruch als auch ein Anspruch auf Erstattung der Abmahnkosten gemäß § 97a UrhG nebst Zinsforderungen aus, wobei die Höhe des Erstattungsanspruchs nach der jüngeren Rechtsprechung des OLG Frankfurt am Main vom 31.03.2020, Az. 11 U 44/19, auf den Betrag in Höhe von 124 € zu deckeln gewesen wäre.“

_ Keine Haftung des Enkels als Täter

Zwar sei der Enkel unstreitig Täter der Urheberrechtsverletzung. Er sei dafür aber nicht verantwortlich, denn er habe als zur Tatzeit im Januar 2014 11-Jähriger nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne des § 828 Abs. 3 BGB gehabt:

„Zur Überzeugung der Kammer fehlt bei einem 11-jährigen Kind regelmäßig noch das Verständnis für die Rechtswidrigkeit des ‚Downloadens‘ eines Computerspiels in das Netz. Bei der Urheberrechtsverletzung aufgrund der Nutzung eines ‚Filesharing‘-Netzwerkes handelt es sich um eine überdurchschnittlich komplexe Verletzungshandlung, die nicht allein darin besteht, eine Datei unentgeltlich aus dem Internet herunterzuladen, sondern diese bei dem Vorgang und aufgrund der Funktionsweise von einem ‚Filesharing‘-Netzwerk wiederum gleichzeitig auch anderen Nutzern zum ‚Download‘ anzubieten. Der genutzte Computer wird insofern Teil des Netzwerkes, über das die Datei zum ‚Download‘ bereitgehalten wird.

Die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht im Sinne von § 828 Abs. 3 BGB besitzt, wer nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu sein (BGHZ 161, 180). Für die Bejahung der Einsichtsfähigkeit reicht ein allgemeines Verständnis dafür aus, dass die Handlung gefährlich ist und die Verantwortung begründen kann (BGH, VersR 1970, 374). Die Prüfung der deliktischen Verantwortlichkeit ist hierbei sorgfältig zu trennen von der erst in einem nachfolgenden Schritt vorzunehmenden Verschuldensprüfung (BGH, NJW 1970, 1038).

Nach der gesetzlichen Regelung des § 828 Abs. 3 BGB trägt der in Anspruch genommene Minderjährige, hier der Beklagte zu 2), die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen seiner Einsichtsfähigkeit zum Tatzeitpunkt (vgl. Staudinger in: Schulze, BGB, 10. Aufl. 2019, § 828 Rn. 8). Ab dem Alter von sieben Jahren wird deren Vorliegen vom Gesetz widerlegbar vermutet (BGHZ 161, 180).“

Ein 11-jähriges Kind sei noch nicht in der Lage, das Urheberrecht zu verstehen und eine Urheberrechtsverletzung zu erkennen:

„Die Kammer teilt die Einschätzung des AG Koblenz in seinem Urteil vom 19.02.2015, Az.: 164 C 1485/14 (BeckRS 2015, 17651), in einem Fall des Kopierens eines Fotos im Internet, dass einem Kind in diesem Alter – auch einem überdurchschnittlich intelligenten – regelmäßig noch das Verständnis für die Rechtswidrigkeit des ‚Downloadens‘ eines Computerspiels im Internet fehlt. Es handelt sich bei dieser Art von Rechtsverletzung um eine der abstraktesten Verletzungen, die im Rechtsverkehr überhaupt denkbar sind. Diese Verletzung ist nicht ansatzweise vergleichbar mit Körper- oder Eigentumsverletzungen, die greifbar in der realen Umwelt geschehen und damit für Kinder anschaulich sind. Daher kann selbst dann, wenn die Eltern einem Kind die Nutzung einer Internet-Tauschbörse untersagt haben, nicht ohne weiteres von der Einsichtsfähigkeit des hiergegen verstoßenden Kindes ausgegangen werden (Reichold in: jurisPK-BGB, 9. Aufl., Stand 01.02.2020, § 828 Rn. 5 m. w. N.; ihm folgend das AG Koblenz in der genannten Entscheidung). Zwar ist der Beklagte zu 2) – nach seinem Vortrag – mehrfach darüber belehrt worden, nichts Illegales aus dem Internet herunterzuladen und sich nicht an illegalen Tauschbörsen zu beteiligen. Allerdings setzt dies voraus, dass der Beklagte zu 2) zunächst überhaupt erkennt, dass es sich bei der Plattform um eine illegale ‚Filesharing‘-Plattform handelt, eine durchaus technisch komplexe Angelegenheit. Großen Teilen der Bevölkerung – auch der erwachsenen! – fehlt oft die Einsicht, dass ein Kopieren von Daten bzw. ihre Veröffentlichung eine Rechtsverletzung darstellt, zumal wenn man den Vortrag des Beklagten zu 2) berücksichtigt, dass er im Internet die legale kostenlose Nutzung sowie auch legale kostenlose ‚Downloads‘ in Anspruch genommen hat. Darüber hinaus hat er nachvollziehbar vorgetragen, dass er über die vertrauenswürdig erscheinende Video-Plattform ‚YouTube‘ eine Anleitung zur Nutzung weiterer kostenloser Spiele über das Internet gefunden hat.

Der Beweis, dass eine bestimmte Person nicht einsichtsfähig war, kann in der Regel nur über Indizien geführt werden. Das Alter der Person und die in diesem Alter typische Einsichtsfähigkeit sind regelmäßig das wichtigste und oftmals einzige Indiz für die existierende oder fehlende Einsichtsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund hält es die Kammer für praktisch ausgeschlossen, dass ein 11-jähriges Kind versteht, dass es eine Rechtsverletzung darstellt, Computerspiele ‚hochzuladen‘. Soweit Gerichte in vergleichbaren ‚Filesharing-Fällen‘ die Einsichtsfähigkeit von Minderjährigen bejaht haben, betraf dies Fälle eines fast 13-Jährigen (OLG Hamm, MMR 2016, 547 = BeckRS 2016, 10876) bzw. eines 15-jährigen Jugendlichen (AG Berlin-Charlottenburg, MMR 2020, 133 = BeckRS 2019, 30392; vgl. auch insoweit Wellenhofer in: beck-online.Großkommentar, GesamtHrsg. Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, Hrsg. Spickhoff, Stand 15.09.2020 § 828 Rn. 37), die nach Auffassung der Kammer nicht mit einem 11-jährigen Kind vergleichbar sind, welches altersmäßig der Jahreszahl von zehn Jahren gemäß der Regelung in § 828 Abs. 2 BGB hinsichtlich der Haftung von Minderjährigen bei fahrlässiger Verursachung von Verkehrsunfällen näher steht.“

Rechtsfolge:

Habe dem damals 11-jährigen Enkelkind die Verantwortlichkeit für sein Tun gefehlt, hafte es weder auf Schadensersatz noch für die Abmahnkosten.

Auswirkung auf die Praxis

Richtig – illegales Filesharing ist eine der abstraktesten Verletzungen, die im Rechtsverkehr überhaupt denkbar sind. Überhaupt ist das Urheberrecht eine ziemlich abstrakte Rechtsmaterie, die sogar vielen Anwälten, Richtern und anderen Juristen völlig fremd ist. Dass im Internet viel über Rechtsverstöße im Internet zu lesen ist, ändert daran nichts. Ein großes Informationsangebot hat nicht automatisch großes Verständnis zur Folge.

Die Haftung Minderjähriger richtet sich nach § 828 BGB. Kinder haften

  • bis zu ihrem 7. Geburtstag gar nicht,
  • danach bis zum 10. Geburtstag noch immer nicht für Verkehrsunfälle, sofern sie diese nicht vorsätzlich herbeigeführt haben,
  • und im Übrigen dann nicht, wenn sie bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht haben.

„Bei der Begehung der schädigenden Handlung“ – entscheidend ist also nicht das Alter im Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung, sondern im Zeitpunkt des Rechtsverstoßes.

Das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main hat für den Filesharing-Sektor zwei praktische Auswirkungen:

  • Es gibt bei Filesharing keine Sippenhaftung,
  • und die Fähigkeit eines Kindes, einen Computer zu bedienen, hat noch nicht seine Einsichtsfähigkeit in das Computerrecht zur Folge.

Beides sind im Grunde nur althergebrachte Rechtsgrundsätze. Die Abmahnindustrie sieht dies gerne anders. Das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29.10.2020 schiebt diesen Begehrlichkeiten der Abmahnindustrie einen Riegel vor.

 

© RA Stefan Loebisch | Kontakt