Identifizierende Verdachtsberichterstattung über ausländischen Diplomaten und Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Vorverurteilung – der Bundesgerichtshof (BGH) entschied mit Urteil vom 20.06.2023, Az. VI ZR 262/21: Eine identifizierende Verdachtsberichterstattung setzt einen Mindestbestand an Beweistatsachen voraus und darf keine Vorverurteilung beinhalten.
Sachverhalt: Worum geht es?
Der Kläger war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts – Kammergericht Berlin – Botschafter in Deutschland. Die eine der beiden beklagten Parteien betreibt die Website des Nachrichtenmagazins „SPIEGEL“. Bei der anderen beklagten Partei handelt es sich um den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR).
Im Rahmen von Berichterstattung über organisierte Kriminalität in Deutschland unter anderem im Zusammenhang mit Schleuseraktivitäten und Geldwäsche berichteten die beiden Beklagten in mehreren Beiträgen auch über den Kläger, und zwar unter Nennung von dessen vollem Namen.
Der Kläger verlangte, diese Berichterstattung zu unterlassen.
Das Landgericht Berlin als erstinstanzlich befasstes Gericht verurteilte die Beklagten antragsgemäß zur Unterlassung der Veröffentlichung der in der obigen Darstellung kursivgesetzten Passagen der Berichterstattung und zur Erstattung vorgerichtlicher Abmahnkosten. Auf die Berufung der Beklagten änderte das Kammergericht Berlin das landgerichtliche Urteil teilweise ab. Das Kammergericht ist als Oberlandesgericht die zweite Instanz für Entscheidungen unter anderem des Landgerichts in zivilrechtlichen Verfahren.Es bejahte einen Unterlassungsanspruch nur hinsichtlich Berichtspassagen zur angeblichen Stellung des Klägers als „Dieb im Gesetz“. Hinsichtlich der übrigen streitgegenständlichen Passagen betreffend Ermittlungen zu Schleuseraktivitäten und Geldwäsche und eines Teils der Abmahnkosten wies das Kammergericht die Klage ab.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision erstrebte der Kläger die vollständige Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Die Beklagten verfolgten im Wege der Anschlussrevision ihre Anträge auf vollständige Abweisung der Klage weiter.
Ergebnis: Wie entschied der BGH?
Der BGH entschied zugunsten des Klägers und stellte das Urteil des Landgerichts Berlin wieder her. Bei allen streitgegenständlichen Äußerungen über den Kläger handle es sich um unzulässige Verdachtsberichterstattungen, die ihn in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt habe. Dem Kläger stehe gegen die Beklagten deshalb hinsichtlich aller streitgegenständlichen und vom Landgericht untersagten Äußerungen ein Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1 , Art. 2 Abs. 1 GG zu und damit auch ein Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten vorgerichtlichen Abmahnkosten:
Die mit den angegriffenen Aussagen verbundenen, den Kläger identifizierenden Verdachtsäußerungen griffen in den Schutzbereich seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein. Der Vorwurf, strafbare Handlungen begangen zu haben und Teil der Mafia seines Heimatlandes (gewesen) zu sein, beeinträchtigten ihn in erheblichem Maße in seiner Ehre und sozialen Anerkennung.
Daran ändere auch ein Hinweis nichts, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde:
„An dem Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass in den Beiträgen auf die Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen Geldwäsche hingewiesen wird. Denn allein der Umstand, dass über vergangene Ermittlungen gegen den Kläger wegen des Verdachts der Geldwäsche berichtet wird, birgt die Gefahr, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und trotz der späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens vom Schuldvorwurf ‚etwas hängenbleibt‘ (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 2016 – VI ZR 367/15 , NJW-RR 2017, 31 Rn. 16 mwN), zumal in den streitgegenständlichen Textpassagen der Grund für die Einstellung nicht mitgeteilt wird.“
In seinem Leitsatz zum Urteil hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Zulässigkeit identifizierender Verdachtsberichterstattung zusammengefasst:
- Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen, erforderlich.
- Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt.
- Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen.
- Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.
Eine Verdachtsberichterstattung könne nicht auf ein – noch dazu unergiebiges – behördeninternes Dokument gestützt werden:
„Damit bleibt als Grundlage für die in Richtung des Klägers ausgesprochenen Verdächtigungen allein der in tatsächlicher Hinsicht unergiebige Inhalt des Behördengutachtens des BND [Bundesnachrichtendienst; d. Verf.]. Dieses stellt jedoch keine privilegierte Quelle dar, auf deren Richtigkeit die Beklagten ohne weitere Nachforschungen hätten vertrauen dürfen. Zwar ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass den Verlautbarungen amtlicher Stellen ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden darf (vgl. Senatsurteile vom 17. Dezember 2013 – VI ZR 211/12 , BGHZ 199, 237 Rn. 30; vom 11. Dezember 2012 – VI ZR 314/10 , AfP 2013, 57 Rn. 29 ff.; BVerfG, NJW-RR 2010, 1195 [BVerfG 09.03.2010 – 1 BvR 1891/05] Rn. 35 jeweils mwN; EGMR, NJW 2018, 3083 Rn. 44 und NJW 2018, 3768 Rn. 46 ff.). Um eine derartige für die Öffentlichkeit bestimmte Verlautbarung handelt es sich bei dem Bericht des BND aber gerade nicht. Er war ausdrücklich nur für den Dienstgebrauch bestimmt.“
Dass das Bubdeskriminalamt (BKA) seinerseits in einem – ebenfalls nur für den Dienstgebrauch bestimmten – Schreiben an die Landeskriminalämter im Hinblick auf die vom BND erhobenen und vom BKA als weder bestätig- noch widerlegbar eingeschätzten Vorwürfe Vorbehalte gegen eine vertiefte Zusammenarbeit mit dem Heimatland des Klägers im Zusammenhang mit einem Unterstützungsangebot des Klägers formuliert habe, befreie die Beklagten ebenfalls nicht von ihrer publizistischen Sorgfaltspflicht, die Verdachtsäußerungen nur bei Vorliegen eines Mindestmaßes an Beweistatsachen zu veröffentlichen.
Auch die bloße Tatsache, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, begründet noch keinen Mindestbestand an Beweistatsachen:
„Was die in den streitgegenständlichen Beiträgen enthaltene Berichterstattung über die wegen des Verdachts der Geldwäsche gegen den Kläger geführten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft angeht, genügt die bloße Tatsache der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens als solche nicht für die Annahme des Vorliegens eines Mindestbestands an Beweistatsachen (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 2016 – VI ZR 367/15 , NJW-RR 2017, 31 Rn. 26 mwN).“
Auswirkung auf die Praxis
Crime sells (Sex auch). Presse lebt von der Dramatisierung und Skandalisierung. Mit „Sonnenschein, ideale Temperaturen, alle Menschen haben einander lieb“ lassen sich keine Schlagzeilen, keine Zugriffszahlen und damit keine Umsätze generieren.
Die Strafprozessordnung (StPO) widerlegt Volkes Meinung, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren bedeute, dass jemand Dreck am Stecken habe:
Nach § 152 Abs. 2 StPO genügen „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ für eine Straftat, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Ob sich diese Anhaltspunkte im weiteren Verlauf als belastbar und am Ende gar als zutreffend herausstellen, ist eine ganz andere Frage: Nach § 160 Abs. 1 StPO hat die Staatsanwaltschaft zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen, sobald sie durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält. Nach § 160 Abs. 2 StPO hat sie dabei nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist.
Erst, wenn die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage bieten, erhebt die Staatsanwaltschaft sie, indem sie bei dem zuständigen Gericht eine Anklageschrift einreicht; § 170 Abs. 1 StPO. Bieten die Ermittlungen keinen genügenden Anlaß, ist die Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO verpflichtet, das Verfahren einzustellen.
Aber auch mit Anklageerhebung ist ein Tatnachweis im Sinne des Prozessrechts noch lange nicht erbracht: Dies ist erst Gegenstand der Beweisaufnahme im strafrechtlichen Hauptverfahren vor Gericht.
Von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen einen Beschuldigten bis zur Feststellung, dass der Beschuldigte sich tatsächlich an einer Straftat beteiligt hat, ist es also regelmäßig ein weiter Weg.
Ein Verdacht setzt also noch lange keine Tat voraus. Dementsprechend gestattet es ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren noch lange nicht, den Beschuldigten am Nasenring durch die Manege zu zerren.
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