EuGH: Pflichtangabe „Herr“ oder „Frau“ und Datenschutzrecht

Pflichtangabe „Herr“ oder „Frau“ beim Kauf eines Bahntickets – der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschied mit Urteil vom 09.01.2025 in der Rechtssache C‑394/23 „Mousse“: Die Pflicht, beim Online-Kauf einer Fahrkarte eine der beiden Anredeformen Monsieur“ oder „Madame“, also „Herr“ oder „Frau“, anzugeben, verstößt gegen Datenschutzrecht, da die Geschlechtsidentität der Kundschaft keine für den Erwerb eines Fahrscheins erforderliche Angabe ist.

Sachverhalt: Worum geht es?

Das französische Eisenbahnunternehmen SNCF Connect vertreibt online über dessen Website und Apps Bahnfahrkarten wie Zugtickets, Abonnements und Ermäßigungskarten. Beim Onlineerwerb dieser Fahrscheine über diese Website und Apps waren die Kunden dieses Unternehmens verpflichtet, ihre Anrede anzugeben, indem sie „Monsieur“ oder „Madame“, also „Herr“ oder „Frau“ ankreuzen.

Der Verband Mousse, der sich gegen sexuelle Diskriminierung einsetzt, beanstandete diese Pflichtangabe bei dem französischen Nationalen Ausschuss für Datenverarbeitung und Freiheitsrechte (Commission Nationale de l’informatique et des Libertés; CNIL). Nach Auffassung von Mousse verstieß diese Pflichtangabe „Monsieur“ oder „Madame“ gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Datenminimierung: Die Anrede, die einer Geschlechtsidentität entspreche, sei keine für den Erwerb eines Fahrscheins erforderliche Angabe. 2021 wies die CNIL diese Beschwerde mit der Begründung zurück. Mit dieser Entscheidung war Mousse nicht einverstanden und wandte sich an den französischen Staatsrat (Conseil d’État) mit dem Ziel, den Bescheid der CNIL für nichtig erklären zu lassen.

Der Conseil d’État beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Kann bei der Beurteilung der Angemessenheit, Erheblichkeit und Beschränkung auf das für die Zwecke der Verarbeitung der Daten notwendige Maß der Datenerhebung im Sinne der Bestimmungen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO und der Erforderlichkeit ihrer Verarbeitung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b und f DSGVO die allgemeine Verkehrssitte in der privaten, geschäftlichen und behördlichen Kommunikation berücksichtigt werden, so dass die auf die Angaben „Herr“ oder „Frau“ beschränkte Erhebung von Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden als erforderlich angesehen werden könnte, ohne dass der Grundsatz der Datenminimierung dem entgegenstünde?

2. Ist bei der Beurteilung, ob die verpflichtende Erhebung und die Verarbeitung von Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden erforderlich ist, in Anbetracht der Tatsache, dass einige Kunden der Ansicht sind, dass auf sie keine der beiden Anreden zutreffe und dass die Erhebung dieser Daten in Bezug auf sie nicht erheblich sei, zu berücksichtigen, dass die Kunden, nachdem sie dem Verantwortlichen diese Daten zur Verfügung gestellt haben, um die angebotene Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, nach Art. 21 DSGVO ihr Recht geltend machen könnten, der Verwendung und Speicherung dieser Daten unter Berufung auf ihre besondere Situation zu widersprechen?

Ergebnis: Wie entschied der EuGH?

Zur ersten Vorlagefrage entschied der EuGH, dass die Pflicht, die Anredeformen „Monsieur“ oder „Madame“ mit angeben zu müssen, der DSGVO widerspricht:

„Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b und f in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO dahin auszulegen ist, dass

  • die Verarbeitung personenbezogener Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden eines Transportunternehmens, die darauf abzielt, die geschäftliche Kommunikation aufgrund ihrer Geschlechtsidentität zu personalisieren, weder objektiv unerlässlich noch wesentlich für die ordnungsgemäße Erfüllung eines Vertrags erscheint und daher nicht als für die Erfüllung dieses Vertrags erforderlich angesehen werden kann;
  • die Verarbeitung personenbezogener Daten hinsichtlich der Anrede der Kunden eines Transportunternehmens, die darauf abzielt, die geschäftliche Kommunikation aufgrund ihrer Geschlechtsidentität zu personalisieren, nicht als zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen dieser Verarbeitung oder eines Dritten erforderlich angesehen werden kann, wenn
  • diesen Kunden bei der Erhebung dieser Daten nicht das verfolgte berechtigte Interesse mitgeteilt wurde; oder
  • diese Verarbeitung nicht innerhalb der Grenzen dessen erfolgt, was zur Verwirklichung dieses berechtigten Interesses unbedingt notwendig ist; oder
  • in Anbetracht aller relevanten Umstände die Grundrechte und Grundfreiheiten dieser Kunden gegenüber diesem berechtigten Interesse überwiegen können, insbesondere wegen der Gefahr einer Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität.“

Zur zweiten Vorlagefrage entschied der EuGH, dass das Widerspruchsrecht der betroffenen Person gemäß Art. 21 DSGVO gegen die Erfassung der Anredeformen „Monsieur“ oder „Madame“ zu keiner anderen Beurteilung führt:

„Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DSGVO dahin auszulegen ist, dass bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmung nicht zu berücksichtigen ist, dass die betroffene Person möglicherweise nach Art. 21 DSGVO ein Widerspruchsrecht hat.“

Auswirkung auf die Praxis

Das Urteil des EuGH vom 09.01.2025 ist nicht die erste Entscheidung, die sich mit Anredeformen in Geschäftskorrespondenz und Buchungssystemen beschäftigt und dabei Einschränkungen auf „Herr“ und „Frau“ eine Absage erteilt:

Das Landgericht Frankfurt am Main entschied bereits mit Urteil vom 03.12.2020, Az. 2-13 O 131/20, dass die erzwungene Angabe der Anredeform „Herr“ oder „Frau“ eine Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Mit Beschluss vom 27.08.2024, Az. X ZR 71/22, wies der Bundesgerichtshof in diesem Verfahren schließlich die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main erlassene Urteil vom 21.06.2022, Az. 9 U 92/20, zurück, wonach die Anreden „Herr“ oder „Frau“ in der Buchungsmaske der Deutschen Bahn nicht ausreichen.

Art. 82 Abs. 1 DSGVO gibt jeder Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter. Ein Verstoß gegen das Datenschutzrecht liegt auch dann vor, wenn einzelne Daten – wie zum Beispiel die Anredeform – unnötigerweise, also unter Missachtung des Gebotes der Datensparsamkeit, als Pflichtangaben abgefragt, erhoben und verarbeitet werden.

Das Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde gemäß Art. 77 DSGVO tritt hinzu.

In Bestellformularen und Anmeldemasken auf althergebrachten Einschränkungen der Anredeformen zu beharren, kann damit nicht nur lästig, sondern auch teuer werden. Die Geschäftskorrespondenz ist kein Ort für Kulturkampf, sondern sollte Maß, Offenheit und Zurückhaltung zum Ausdruck bringen.

Das Urteil des EuGH vom 9. Januar 2025 betrifft jede Website, die eine Anmeldemaske, eine Buchungsfunktion oder ein Kontaktformular enthält. Website-Betreiber und Onlinehändler sollten das Urteil zum Anlass nehmen, ihre Eingabemasken und Warenkorbfunktionen zu überprüfen, ob sie mit dem aktuellen Datenschutzrecht Schritt halten.

 

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