Anredeformen in der Buchungsmaske der Deutschen Bahn und non-binäre Geschlechtsidentität – die Anreden „Herr“ oder „Frau“ reichen nicht aus. Der Bundesgerichtshof (BGH) wies mit Beschluss vom 27.08.2024, Az. X ZR 71/22 die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main erlassene Urteil vom 21.06.2022, Az. 9 U 92/20, zurück.
Sachverhalt: Worum geht es?
Die klagende Person besaß jedenfalls zum Zeitpunkt, als das Oberlandesgericht Frankfurt am Main sein Urteil fällte, eine nicht-binäre Geschlechtsidentität. Eine Personenstandsänderung hatte nicht stattgefunden, so dass in der Geburtsurkunde eine binäre Geschlechtsangabe enthalten sowie offenbar ein üblicherweise männlicher Vornameeingetragen war.
Am 16.10.2019 besuchte die klagende Person den Internetauftritt der DB Vertrieb GmbH, um dort online eine Fahrkarte zu erwerben. Bei diesem Unternehmen handelt es sich um die Vertriebstochter der Deutschen Bahn AG. Voraussetzung hierfür war, dass die Anrede „Herr“ oder „Frau“ ausgewählt wird. Der Erwerb einer Fahrkarte ohne diese Angabe war online nicht möglich. Die Geschlechtsbezeichnung „Herr“ oder „Frau“ fand sich auf der Fahrkarte. Ebenso erforderte die Registrierung als Kundschaft über den Internetauftritt der Beklagten zwingend die Auswahl der Anrede „Herr“ oder „Frau“. Entsprechend erfolgt die Ansprache der Kundschaft in der Kommunikation.
An Automaten und in Geschäften der Beklagten sowie bei Dritten konnten Fahrscheine dagegen ohne Geschlechtsangabe erworben werden.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 10.12.2019 forderte die klagende Person die Beklagte zu einer Unterlassungserklärung und Zahlung einer Geldentschädigung auf.
Nach Kauf einer BahnCard wurde die klagende Person in der ihr von der Beklagten zugesandten Rechnung vom 12.03.2020 als „Herr“ tituliert.
Die klagende Person war der Auffassung, die im Vergleich zu binären Geschlechtern schlechtere Behandlung im Rahmen des Abschlusses und der Abwicklung eines Massengeschäfts stelle eine Benachteiligung dar, für welche ein sachlicher Grund nicht gegeben sei. Damit liege ein Verstoß der Beklagten gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG vor. Der persönliche Schutzbereich des AGG greife unabhängig vom Personenstandseintrag. Der sachliche Schutzbereich des Gesetzes umfasse auch die Vertragsanbahnung. Die Belastungen durch die Diskriminierung seien bei der klagenden Person erheblich. Die Benennung der Geschlechtsidentität sei Teil der Intimsphäre. Der Zwang zur Falschangabe führe zu einem Dilemma: Lüge oder Selbstverleugnung. Das Schmerzensgeld nach dem AGG sei nach europarechtlichen Maßstäben zu bewerten und müsse einen abschreckenden Charakter aufweisen. Eines Verschuldens für eine Haftung der Beklagten aus § 21 AGG bedürfe es nicht, dieses Erfordernis sei europarechtswidrig; im Übrigen liege jedoch Fahrlässigkeit vor.
Das Landgericht Frankfurt am Main (Teilversäumnisurteil vom 11.08.2020 und Urteil vom 03.12.2020, Az, 2-13 O 131/20) sah noch keine Benachteiligung der klagenden Person. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main dagegen sprach der klagenden Person mit Urteil vom 21.06.2022, Az. 9 U 92/20, ein Schmerzensgeld in Höhe von 1000 € zu und verurteilte die Beklagte unter anderem, es zu unterlassen, dass
- die klagende Person bei der Nutzung von Angeboten der Beklagten zwingend eine Anrede als Herr oder Frau angeben muss
- die klagende Person bei der Ausstellung von Fahrkarten, Schreiben des Kundenservice, Rechnungen sowie begleitender Werbung und in der Verwaltung dafür gespeicherter personenbezogener Daten als „Frau“ oder „Herr“ bezeichnet wird.
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main ließ die Revision zum Bundesgerichtshof in seinem Urteil nicht zu. Hiergegen erhob die Beklagte vor dem Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerde.
Ergebnis: Wie entschied der Bundesgerichtshof?
Der Bundesgerichtshof wies die Nichtzulassungsbeschwerde zurück. Von einer vertieften Begründung der Entscheidung sah der Bundesgerichtshof ab:
„Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die auf die Verletzung von Verfahrensgrundrechten gestützten Rügen nicht durchgreifen und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts auch im Übrigen nicht erfordern (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird insoweit gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2, 2. Halbsatz ZPO abgesehen.“
Auswirkung auf die Praxis
Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main sind für jeden Webshop-Betreiber (generisches Maskulinum) Anlass, die eigenen Eingabemasken und die dortigen Pflichtangaben zu überprüfen. Shop-Software und Eingabemasken, die zwingend die Auswahl „Herr“ bzw. „Mann“ oder „Frau“, „männlich“ oder „weiblich“ voraussetzen und sämtliche non-binären und/oder diversen Formen unberücksichtigt lassen, sind schlichtweg alter Kaffee und entsprechen im Übrigen nicht mehr der aktuellen Rechtslage: Schon seit dem 22.12.2018 eröffnet das deutsche Personenstandsgesetz (PStG) – §§ 45b und 22 Abs. 3 PStG – die Option, im Geburtenregister die Angabe „divers“ eintragen zu lassen.
Leben und leben lassen: Die Erweiterung der Eingabemasken und der Pflichtangaben im Webshop über „Mann“ und „Frau“ hinaus ist nicht Wahnsinn aus Wokeistan, sondern am Ende schlicht Gebot des Anstandes und Ausdruck von Gelassenheit. Die geschlechtsneutrale Anrede „Guten Tag (Vorname) (Nachname)“ ist im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert mindestens ebenso gut wie die Old-School-Anreden „Sehr geehrte Frau (Nachname)“ oder „Sehr geehrter Herr (Nachname)“. Die Zeiten, in denen erwachsene Menschen außerhalb des Ehebettes keine Namen und erst recht keine Vornamen hatten, sondern nur Titel, Dienstgrade und Berufsbezeichnungen, sind lange vorbei.
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