Erzwungene Anrede „Herr“ oder „Frau“ verletzt Persönlichkeitsrecht

Obligatorische Anrede als „Herr“ oder „Frau“ in der Geschäftskorrespondenz – das Landgericht Frankfurt am Main entschied mit Urteil vom 03.12.2020, Az. 2-13 O 131/20: Die erzwungene Angabe der Anredeform „Herr“ oder „Frau“ verletzt eine Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Sachverhalt: Worum geht es?

Die Beklagte ist die Vertriebstochter eines deutschlandweit tätigen Eisenbahnkonzerns. Bei der Buchung einer Fahrkarte über deren Internetauftritt muss die Kundschaft die Anrede „Herr“ oder „Frau“ wählen. Eine geschlechtsneutrale Anrede ist nicht verfügbar. Die Auswahl kann nicht offengelassen werden. Auch die Registrierung als Kundschaft erfordert die Festlegung als „Herr“ oder „Frau“. Zuschriften der Beklagten enthalten ebenfalls eine dieser beiden Anredeformen. Die klagende Person ist nicht-binären Geschlechts und wurde nach dem Kauf einer Rabattkarte in einer Rechnung als „Herr“ angesprochen. Die klagende Person klagte wegen einer Diskriminierung ihrer geschlechtlichen Identität.

Ergebnis: Wie entschied das Gericht?

Das Landgericht Frankfurt hat der Klage teilweise stattgegeben.

Nach Auffassung des Landgerichts kann die klagende Person von dem beklagten Eisenbahnunternehmen verlangen, bei der Nutzung seiner Angebote nicht zwingend die Anrede „Herr“ oder „Frau“ angeben zu müssen. Es müsse die Wahl einer geschlechtsneutralen Anrede bestehen. Auch in der Kommunikation mit der klagenden Person und bei der Speicherung ihrer Daten sei eine Bezeichnung als „Herr“ oder „Frau“ zu unterlassen.

_ Persönlichkeitsrechtsverletzung durch Festlegung als „Herr“ oder „Frau“

Durch die notwendige Festlegung als „Herr“ oder „Frau“ werde die klagende Person in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Dieses Recht schütze auch die geschlechtliche Identität. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelte das unabhängig davon, ob die Person dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden könne oder nicht. Für das Auftreten in einer bestimmten Geschlechtsidentität sei nach allgemeinem Verständnis die Anredeform von zentraler Bedeutung.

_ Neutrale Anredeform ausreichend

Um die Dienstleistungen des beklagten Eisenbahnunternehmens zu nutzen, sei das Geschlecht des Kunden völlig irrelevant. Die Beklagte könne daher eine andere Grußformel, etwa „Guten Tag“, schaffen oder auf eine geschlechtsspezifische Anrede gänzlich verzichten.

_ Änderung im Personenstandsregister nicht erforderlich

Unerheblich sei, dass die klagende Person keine Änderung im Personenstandsregister veranlasst habe und bei dem Standesamt nicht die Eintragung diversen Geschlechts erfolgt sei. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beginne für Personen nicht-binären Geschlechts nicht erst mit erfolgter Personenstandsänderung. Das Recht auf eine der geschlechtlichen Identität entsprechenden Anrede bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits bei gefühlter Geschlechtsidentität.

_ Kein Schadensersatz nach AGG

Den weiteren Antrag der klagenden Partei auf Entschädigung in Geld hat das Landgericht Frankfurt hingegen abgewiesen. Die Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seien nicht gegeben. Die Persönlichkeitsrechtsverletzung sei auch nicht derart schwerwiegend, dass sie eine Geldentschädigung erfordere. Das Verschulden der Beklagten sei gering: Die Anrede als „Herr“ in einem einzelnen Rechnungsschreiben sei nicht böswillig erfolgt, sondern nur Reflex massenhafter Abwicklung standardisierter Vorgänge.

Das Urteil ist – Stand 03.12.2020 – noch nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung bei dem Oberlandesgericht Frankfurt angefochten werden.

Auswirkung auf die Praxis

Das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main hat nichts mit irgend einem „Gender-Wahn“ zu tun, was immer mit diesem Begriff gemeint sein mag. Das Urteil spiegelt schlicht und einfach den wissenschaftlichen Stand von Medizin und Psychologie wieder, der seinen Niederschlag im geltenden Recht finden muss.

Entsprechend wurde bereits das Personenstandsgesetz (PStG) mit Wirkung zum
22.12.2018 geändert.

§ 22 Abs. 3 PStG lautet seither:

„Kann das Kind weder dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so kann der Personenstandsfall auch ohne eine solche Angabe oder mit der Angabe ‚divers‘ in das Geburtenregister eingetragen werden.“

§ 45 b Abs. 1 Satz 1 PStG lautet seither:

„Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung können gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag durch eine andere in § 22 Abs. 3 vorgesehene Bezeichnung ersetzt oder gestrichen wird.“

Das Urteil ist für alle diejenigen relevant, die auf ihrer Website oder in anderer elektronischer Form Kontaktformulare oder ähnliche Eingabemasken verwenden, mit denen der Name und andere Angaben für die Kommunikation erfasst werden. Wer dort nur „Herr“ oder „Frau“, nur männlich oder weiblich, anbietet und vielleicht sogar die eine oder die andere Anredeform zur Pflichtangabe macht, zeigt nicht nur Kenntnis von gestern, sondern riskiert zusätzlich rechtlichen Ärger. Es gibt keinen Grund, sich dem wissenschaftlichen Fortschritt zu versperren.

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