BGH-Urteil „Tauschbörse III“ – Versuch einer Auswertung

Für einen abgemahnten Anschlussinhaber reicht es nicht aus, wenn er lediglich pauschal die theoretische Möglichkeit behauptet, dass seine mit im Haushalt lebenden Familienmitglieder über den Internet-Anschluss auf einer P2P-Tauschbörsenplattform Filesharing betrieben haben könnten. 200 € Schadensersatz pro Musiktitel sind außerdem in Ordnung, und einer Klage auf Ersatz der Abmahnkosten und Schadensersatz nach Lizenzanalogie steht nicht ohne weiteres entgegen, dass der Unterlassungsanspruch nicht weiter geltend gemacht wird: So lässt sich das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11.06.2015 „Tauschbörse III“, Az. I ZR 75/14, zusammenfassen. Am Ende bleiben Fragen offen.

BGH-Urteil „Tauschbörse III“ – worum geht es?

Die BGH-Entscheidung „Tauschbörse III“ hat ihren Ausgang in einer Filesharing-Abmahnung vom 24.09.2007. Dort wurde gegen den späteren Beklagten der Vorwurf erhoben, am 19.06.2007 seien über seinen Internet-Anschluss 2.200 Audiodateien zum Herunterladen verfügbar gehalten worden. Der Beklagte weigerte sich, die mit der Abmahnung geforderte strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Die vier von der Kanzlei Rasch, Hamburg, vertretenen Klägerinnen verlangten vor Gericht schließlich Erstattung von Abmahnkosten in Höhe von 2.380,80 €, berechnet auf Grundlage eines Gegenstandswerts vom 200.000 €. Drei der vier Klägerinnen verlangten weiter Lizenz-Schadensersatz für 15 Musikaufnahmen, wobei sie pro Musikaufnahme eine fiktive Lizenzgebühr von 200 € berechneten. Den Unterlassungsanspruch machten die Klägerinnen im Prozess nicht weiter geltend.

Vor dem Landgericht Köln blieb die Klage zunächst erfolglos. Auf die Berufung der Klägerinnen verurteilte das Oberlandesgericht Köln den Beklagten antragsgemäß mit Urteil vom 14.03.2014, Aktenzeichen 6 U 210/12. Gegen dieses Urteil legte der Beklagte die Revision zum Bundesgerichtshof ein.

Der Beklagte verteidigte sich im Prozess damit, er habe vom 18.06.2007 bis zum 25.06.2007 mit der gesamten Familie Urlaub auf Mallorca gemacht. Vor Urlaubsantritt seien sämtliche technischen Geräte, einschließlich Router und Computer, vom Stromnetz getrennt worden. Die Familie habe nur über einen Computer verfügt. Dieser Computer sei im Büro des Beklagten installiert gewesen. Die Söhne hätten den Computer nur im Beisein des Beklagten nutzen dürfen. Das Büro sei während der Abwesenheit des Beklagten verschlossen gewesen.

Das Oberlandesgericht Köln folgte unter anderen den Vortrag des Beklagten, er habe mit seiner Familie auf Mallorca gemacht und in dieser Zeit seien die technischen Geräte vom Stromnetz getrennt gewesen, nicht. Das Gericht entschied, der Beklagte habe seiner sekundären Darlegungslast nicht genügt, weshalb gegen ihn als Anschlussinhaber eine tatsächliche Vermutung spreche, dass er auch der Täter der Filesharing-Urheberrechtsverletzungen gewesen sei.

Wie entschied der BGH zur sekundären Beweislast und zur isolierten Zahlungsklage?

Der BGH bestätigte das Urteil des Oberlandesgerichts Köln und wies die Revision des Beklagten zurück.

_ Tatsächliche Vermutung und sekundäre Darlegungslast beim Familienanschluss

Es spreche eine tatsächliche Vermutung für eine Täterschaft des Anschlussinhabers, wenn zum Zeitpunkt der Rechtsverletzung keine anderen Personen diesen Internetanschluss hätten benutzen können. Allerdings sei diese tatsächliche Vermutung widerlegbar – unter der Voraussetzung, dass der Anschlussinhaber seine sekundäre Darlegungslast erfülle:

[RN 37] „Eine die tatsächliche Vermutung ausschließende Nutzungsmöglichkeit Dritter ist anzunehmen, wenn der Internetanschluss zum Verletzungszeitpunkt nicht hinreichend gesichert war oder bewusst anderen Personen zur Nutzung überlassen wurde. In diesen Fällen trifft den Inhaber des Internetanschlusses jedoch eine sekundäre Darlegungslast. Diese führt zwar weder zu einer Umkehr der Beweislast noch zu einer über die prozessuale Wahrheitspflicht und Erklärungslast (§ 138 Abs. 1 und 2 ZPO) hinausgehenden Verpflichtung des Anschlussinhabers, dem Anspruchsteller alle für seinen Prozesserfolg benötigten Informationen zu verschaffen. Der Anschlussinhaber genügt seiner sekundären Darlegungslast vielmehr dadurch, dass er dazu vorträgt, ob andere Personen und gegebenenfalls welche anderen Personen selbständigen Zugang zu seinem Internetanschluss hatten und als Täter der Rechtsverletzung in Betracht kommen.
(…)
[RN 38] Der Beklagte hat nicht vorgetragen, dass andere Personen zum Tatzeitpunkt selbständigen Zugang zu seinem Internetanschluss hatten und deshalb als Täter der geltend gemachten Rechtsverletzungen in Betracht kommen.
(….)
[RN 39 a.E.] Soweit die Revision geltend macht, Raum für eine tatsächliche Vermutung der Täterschaft des Beklagten bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht, wenn der Internetanschluss von mehreren Personen im Haushalt genutzt werde, lässt sie außer Acht, dass es nicht auf die Nutzungsmöglichkeit von Familienangehörigen im Allgemeinen, sondern konkret auf die Situation zum Verletzungszeitpunkt ankommt.
(…)
[RN 41] Im Streitfall ist zu berücksichtigen, dass das Berufungsgericht festgestellt hat, der Beklagte habe in konkreter Form lediglich seine eigene Täterschaft in Abrede gestellt, während er sich im Hinblick auf seine im gemeinsamen Haushalt lebenden Familienangehörigen auf eine bloß generell bestehende Zugriffsmöglichkeit auf seinen Computer berufen habe.
(…)
[RN 42 a.E.] Diesen Anforderungen wird die pauschale Behauptung der bloß theoretischen Möglichkeit des Zugriffs von im Haushalt des Beklagten lebenden Dritten auf seinen Internetanschluss nicht gerecht.“

_ Musikgeschmack des Beklagten nicht entscheidend

Auf den Musikgeschmack des Beklagten komme es schon deshalb nicht an,

[RN 43] „weil er auch ohne ein eigenes musikalisches Interesse eine große Anzahl von Audiodateien beispielsweise für gesellige Anlässe, zur Überlassung an Dritte oder aus technischem Interesse an der Funktionsweise einer Internet-Tauschbörse mit Hilfe einer Filesharing-Software auf seinem Computer installiert haben kann.“

Anmerkung: Diese Erwägung des Bundesgerichtshofs findet sich in gleicher Form in der Entscheidung „Tauschbörse I“, I ZR 19/14, dort Rn. 49 der Urteilsbegründung.

_ Beschränkung auf die Geldforderung zulässig

Der Berechtigung der Abmahnung stehe nicht entgegen, dass die Klägerinnen ihre Unterlassungsansprüche nicht gerichtlich verfolgt hätten, obwohl der Beklagte keine Unterlassungserklärung abgegeben habe.

Der Beklagte sei unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683 Satz 1, 670 BGB) verpflichtet, den Klägerinnen deren Abmahnkosten zu ersetzen. Auf die Abmahnung vom 24.09.2007 sei die am 01.09.2008 in Kraft getretene und mit Wirkung vom 09.10.2013 geänderte Regelung des § 97a UrhG nicht anwendbar.

Maßgebend für die Feststellung von Interesse und Wille des Geschäftsherrn sei der Beginn der Geschäftsführung. Die Revision habe keine Umstände geltend gemacht, dass die Klägerinnen mit ihrer Abmahnung lediglich Geldforderungen hätten geltend machen wollen. Solche Umstände seien auch nicht ersichtlich. Die Abmahnung habe eine ausdrückliche Aufforderung zur Abgabe einer Unterlassungserklärung enthalten. Die Klägerinnen hätten mit drei weiteren Schreiben auf der Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung bestanden.

Welche Auswirkung hat das BGH-Urteil auf die Rechtsverteidigung gegen Filesharing-Abmahnungen?

Viele Einzelfall-Erwägungen, weniger Grundsatz-Entscheidungen als ursprünglich erwartet – so lässt sich dieser erste Eindruck wohl zusammenfassen.

Überhaupt nicht neu ist, dass der Anschlussinhaber im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast eine Nachforschungspflicht im Rahmen des zumutbaren hat – was aber generell, über den jeweiligen Einzelfall hinaus, noch zumutbar ist oder eben nicht mehr zumutbar ist, bleibt weiterhin offen. Gegenstand dieses Urteils aus dem Sommer 2015 ist ein Vorfall aus dem Juni 2007 – also ein Vorfall, der nahezu auf den Tag genau acht Jahre zurück lag. Acht Jahre, in denen sich die IT-Landschaft grundlegend verändert hat, in denen es geradezu zum Standard wurde, dass in einem Familienhaushalt nicht nur ein einzelnes Internet-fähiges Gerät vorhanden ist, sondern dass jedes Familienmitglied ein eigenes Smartphone, ein Tablet, einen Laptop besitzt, jedes Familienmitglied also mit mehreren Geräten online gehen kann.

Wie detailliert muss heute also ein abgemahnter Anschlussinhaber vortragen, ob und wie seine Familienmitglieder den gemeinsamen Internetanschluss mit benutzen konnten und so möglicherweise Filesharing über eine P2P-Tauschbörse betrieben?

Stattdessen war hier wesentliche entscheidungserhebliche Tatsache, dass es in der Familie des Beklagten eben nur ein einziges Internet-fähiges Gerät, den Rechner im Büro, gab.

Fragen hinterlassen die Ausführungen des Zivilsenats zu einem angeblichen Interesse des Beklagten, Musik für gesellige Anlässe vorzuhalten, ja mehr noch zu einem angeblichen Interesse des Beklagten an der abstrakten technischen Funktionsweise einer Internet-Tauschbörse – hier driftet das Gericht in Spekulationen ab, für die der festgestellte Sachverhalt wohl keinerlei konkrete Anhaltspunkte bietet.

Offen bleibt am Ende die Frage, unter welchen Umständen ein Anspruch auf Ersatz von Abmahnkosten und sonstige Zahlungsansprüche möglicherweise verwirkt sind oder gar Abmahnungsmissbrauch geltend gemacht werden kann, wenn mit der Klage lediglich die Zahlungsansprüche weiter verfolgt werden, der Unterlassungsanspruch aber unter den Tisch fällt und überhaupt nicht zum Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

So trägt das Urteil wohl nicht wesentlich zu einer allgemeinen Rechtsfortbildung bei, und erst recht nicht für aktuelle Abmahnungs-Sachverhalte – bei ehrlicher Betrachtung nicht auf Seiten der Filesharing-Abmahnindustrie, aber auch nicht auf Seiten der abgemahnten Anschlussinhaber und derjenigen Anwaltskanzleien, die sich deren Verteidigung auf die Fahnen geschrieben haben.