BGH: Zur-Schau-Stellen der Hilflosigkeit auf Bildaufnahme

Anforderungen an das strafbare Zur-Schau-Stellen der Hilflosigkeit einer Person auf einer Bildaufnahme – der Bundesgerichtshof (BGH) entschied mit Beschluss vom 25.04.2017, Az. 4 StR 244/16: Hilflosigkeit im Sinne von § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn ein Mensch aktuell Opfer einer mit Gewalt oder unter Drohungen gegen Leib oder Leben ausgeübten Straftat ist und deshalb der Hilfe bedarf oder sich in einer Entführungs- oder Bemächtigungssituation befindet. Das Tatbestandsmerkmal „Zur-Schau-Stellen“ setzt eine besondere Hervorhebung der Hilflosigkeit als Bildinhalt voraus, so dass diese für einen Betrachter allein aus der Bildaufnahme erkennbar wird.

Was war geschehen?

Schwester entjungfert, eigene Ehre wiederherstellungsbedürftig – die jüngere Schwester des zum Tatzeitpunkt 22-jährigen Angeklagten unterhielt bis etwa einen Monat vor dem Tatgeschehen eine geheim gehaltene Liebesbeziehung zu dem späteren Tatopfer und Nebenkläger. Im Verlauf dieser Liebesbeziehung kam es mindestens einmal zum Geschlechtsverkehr. Hiervon erzählte der Nebenkläger in seinem Freundeskreis. Der Angeklagte erfuhr davon etwa eine Woche vor der Tat. Er verstand dies so, dass der Nebenkläger damit geprahlt habe, er habe seine „Schwester gefickt“.

Der Angeklagte gehört nach einem Pressebericht der Ruhrnachrichten zur dritten Generation in Deutschland lebender türkischstämmiger Muslime. Da er die Erzählungen des Nebenklägers als Beleidigung nicht nur seiner Schwester, sondern auch seiner eigenen Person verstand und er den Nebenkläger ferner für die schlechte psychische Verfassung seiner Schwester nach der Trennung verantwortlich machte, trug er sich mit Racheplänen.

Am Abend des 28.08.2015 veranlasste der Angeklagte sein Opfer unter einem Vorwand, in seinen PKW zu steigen. Der Angeklagte fuhr zu einer kleinen, von ihm zuvor ausgewählten Industrieruine auf einer abgelegenen Brachfläche. Zwei weitere Personen, die in das Vorhaben jedenfalls zum Teil eingeweiht waren und deshalb mit angeklagt wurden, begleiteten den Täter.

Das Opfer wurde zunächst verprügelt. Im weiteren Verlauf forderte der Angeklagte von seinem Opfer die Zahlung von 2.500 € für die operative Rekonstruktion des Hymens seiner Schwester.

Um sein Opfer noch einmal in besonderer Weise zu demütigen und sich ihm gegenüber ein Druckmittel zu verschaffen, verlangte er von diesem, sich eine leere 0,3-Liter-Flasche mit langem Hals rektal einzuführen. Den Hals der Flasche hatte der Angeklagte zuvor eingecremt. Sein Opfer führte sich die Flasche unter Schmerzen in seinen Anus ein. Der Angeklagte filmte dieses Geschehen mit der Kamerafunktion des Mobiltelefons eines der Mitangeklagten. Er zeichnete zunächst erkennbar das Gesicht seines Opfers auf. Dann nahm er gezielt dessen Gesäß in den Fokus. Nach einiger Zeit gestattete der Angeklagte seinem Opfer, aufzuhören. Er erklärte ihm, er werde das Video im Internet veröffentlichen, wenn er die 2.500 € nicht erhalten würde oder wenn sein Opfer zur Polizei gehen würde.

Sein Opfer ging zur Polizei und zahlte nicht.

Das Landgericht Essen verhängte gegen den Angeklagten mit Urteil vom 02.02.2016 eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Das Urteil erging unter anderem wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäß § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Der Angeklagte legte gegen das Urteil die Revision zum BGH ein.

Wie entschied der BGH?

Der BGH hob das Urteil des Landgerichts Essen auf und verwies die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.

Unter anderem seien die bisherigen Feststellungen des Landgerichts Essen nicht ausreichend für die Verurteilung wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs im Sinne von § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB durch Bildaufnahmen der dem Opfer abverlangten rektalen Einführung der Flasche.

Der BGH beschäftigte sich zunächst mit dem Tatbestandsmerkmal der Hilflosigkeit. Dieses Tatbestandsmerkmal sei hier erfüllt:

Der entsprechenden Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 18/3202) sei zu entnehmen, dass der Gesetzgeber einen eher weiten Begriff der Hilflosigkeit vor Augen gehabt habe.

Zum konkreten Fall führte der BGH aus:

„Unbeschadet weiterer denkbarer, am Wortsinn orientierter Sachverhaltskonstellationen, deren Herausbildung der Gesetzgeber damit der fachgerichtlichen Rechtsprechung überantwortet hat (vgl. dazu BVerfGE 126, 170, 208 f.; BVerfG, Beschluss vom 1. November 2012 – 2 BvR 1235/11 , NJW 2013, 365, 367), ist das Tatbestandsmerkmal der Hilflosigkeit nach dem Wortsinn und dem gesetzgeberischen Willen jedenfalls dann gegeben, wenn ein Mensch aktuell Opfer einer mit Gewalt oder unter Drohungen gegen Leib oder Leben ausgeübten Straftat ist und deshalb der Hilfe bedarf oder sich in einer Entführungs- oder Bemächtigungssituation befindet. Dies liegt nach den getroffenen Feststellungen hier vor.“

Anschließend beschäftigte sich der BGH mit dem weiteren Tatbestandsmerkmal des Zur-Schau-Stellens. Hierzu, so der BGH, habe das Landgericht keine ausreichende Tatsachenfeststellung betrieben:

„Indes bestehen auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen durchgreifende Zweifel daran, dass die Hilflosigkeit des Nebenklägers auf der Bildaufnahme auch ‚zur Schau‘ gestellt wird.

Hinsichtlich der Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal ‚Zur-Schau-Stellen‘ in § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB teilt der Senat die Auffassung im Schrifttum, wonach der Wortlaut der Regelung hier eine besondere Hervorhebung der Hilflosigkeit als Bildinhalt voraussetzt, so dass diese für einen Betrachter allein aus der Bildaufnahme erkennbar wird (ebenso Bosch aaO, Rn. 12; Fischer aaO, Rn. 10b). In Fällen der bloßen Abbildung der Vornahme einer Handlung durch eine Person (als Tatopfer) bedarf dies in der Regel näherer Darlegung, wenn die abgebildete Handlung nicht schon ohne Weiteres die Hilflosigkeit der sie vornehmenden Person impliziert. Gibt erst der Gesamtkontext der Bildaufnahme – etwa bei ambivalenten Handlungen – zu erkennen, dass die abgebildete Person sie im Zustand der Hilflosigkeit vornimmt, beispielsweise in einer Bemächtigungssituation, bedarf es dazu eingehender tatrichterlicher Feststellungen.“

Das Gericht müsse prüfen, ob die Hilflosigkeit des Opfers und die Bedrohungssituation in der Bildaufnahme sichtbar geworden sei:

„Gemessen an diesem Verständnis des Tatbestandsmerkmals des Zur-Schau-Stellens ermöglichen die bisher getroffenen Feststellungen dem Senat nicht die Prüfung der Frage, ob der Bildinhalt die Hilflosigkeit des Tatopfers im dargelegten Sinne zu erkennen gibt. Dem angefochtenen Urteil ist insoweit lediglich zu entnehmen, dass der Angeklagte das betreffende Geschehen, hier die rektale Einführung der Flasche, mit der Kamerafunktion des Mobiltelefons des Mitangeklagten Y. aufzeichnete. Ob diese Bildaufzeichnung auch die Bedrohungssituation widerspiegelt, ergeben die Urteilsfeststellungen nicht. Der Umstand, dass sich der Geschädigte die Flasche rektal einführte, sagt aber für sich genommen noch nichts über den Kontext aus, in dem die Handlung ausgeführt wurde.“

Welche Auswirkung hat die Entscheidung des BGH auf die Praxis bei der Strafverteidigung?

Der strafrechtliche Vorwurf bei § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB knüpft nicht daran an, dass das Opfer hilflos ist. Der strafrechtliche Vorwurf knüpft vielmehr daran an, dass diese Hilflosigkeit durch eine Bildaufnahme, also durch ein Foto oder durch ein Video, zur Schau gestellt wird. Im Kern geht es also aus der Sicht des hilflosen Tatopfers auch um das Recht an eigenen Bild.

Deswegen kommt es am Ende nicht auf die Hilflosigkeit als solche an – diese Hilflosigkeit ist nur Voraussetzung für alles weitere. Vielmehr kommt es am Ende auf die Bildaussage an: Vermittelt die Bildaussage gerade die Hilflosigkeit des Tatopfers? Führt das Bild das Tatopfer als hilflosen Menschen vor? Oder zeigt das Bild nur einen Vorgang, bei dem die abgebildete Person hilflos gewesen sein kann, bei der die abgebildete Person aber vielleicht auch nur freiwillig handelt, wie befremdlich es in diesem Fall auch immer erscheinen mag? Ist die abgebildete Person Opfer oder spielt die Person Jackass nach? Welche Informationen hierzu lassen sich dem Foto oder dem Video entnehmen?

Zu dieser Frage muss das Strafurteil Feststellungen enthalten. Für den Strafverteidiger bedeutet dies: Das Bild ansehen, nicht das Opfer.

 

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