BGH-Urteil: Widerruf des Handwerkervertrags als Geschäftsmodell

Widerruf des Handwerkervertrags mit Rückzahlungsanspruch als Geschäftsmodell des Bauherrn – der Bundesgerichtshof (BGH) entschied mit Urteil vom 06.07.2023, Az. VII ZR 151/22: Ein Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB, der ein Widerrufsrecht zur Folge haben könnte, liegt nicht vor, wenn der Verbraucher ein vom Unternehmer am Vortag unterbreitetes Angebot am Folgetag außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt.

Sachverhalt: Worum geht es?

Die Kläger sind Eigentümer eines Reihenhauses. Der Beklagte führt einen Dachdeckerbetrieb.

Im Sommer 2018 beauftragten die Kläger den Beklagten mit der Erneuerung von Dachrinnen und mit Abdichtungsarbeiten im Eingangsbereich ihres Reihenhauses. Am 22. und 23. August 2018, während der Ausführung der Arbeiten, bemerkte ein Mitarbeiter des Beklagten, dass der Wandanschluss des Daches defekt war, und teilte dies dem Kläger mit.

Der Beklagte teilte dem Kläger daraufhin die ungefähre Größenordnung der für diese Arbeiten anfallenden Vergütung sowie die voraussichtliche Dauer der Arbeiten mit. Hierauf wiederum beauftragte der Kläger den Beklagten auch mit diesen Arbeiten („Wakaflex“), die anschließend ausgeführt wurden. Die Ausführung der Arbeiten zu einem späteren Zeitpunkt wäre mit Mehrkosten für die Kläger verbunden gewesen, weil dies die erneute Aufstellung eines Gerüsts erfordert hätte.

Der Beklagte belehrte die Kläger in diesem Zusammenhang nicht über ein ihnen eventuell zustehendes Widerrufsrecht.

Die Arbeiten wurden vom Beklagten mangelfrei erbracht und in Rechnung gestellt. Für den Auftrag „Wakaflex“ berechnete der Beklagte einen Teilbetrag von 1.164,38 € brutto. Die Kläger glichen die Rechnung zunächst vollständig aus.

Mit Schreiben vom 5. September 2019, welches an diesem Tag um 19:35 Uhr in den Briefkasten des Beklagten eingelegt wurde, widerriefen die Kläger beide Aufträge. Bei einem anschließenden zufälligen Treffen überreichte der Kläger dem Beklagten einen Flyer, der mit „Der Handwerker-Widerruf – Schützen Sie sich vor unseriösen Handwerkern“ überschrieben war. Der Kläger erklärte dem Beklagten, dass er daraus ein neues Geschäftsmodell entwickelt habe.

Die Kläger vertraten im weiteren Verlauf die Auffassung vertreten, ihnen stünde hinsichtlich des ersten Auftrags einschließlich des Zusatzauftrags „Wakaflex“ ein Widerrufsrecht wegen eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrages zu. Mit ihrer Klage forderten sie vom Beklagten die Rückzahlung der für beide Aufträge entrichteten Vergütung.

Das erstinstanzlich zuständige Amtsgericht Hameln wies die Klage mit Urteil vom 11.06.2021, Az. 30 C 52/20, ab. Zur Begründung führte es aus, die Ausübung des Widerrufsrechts durch die Kläger sei rechtsmissbräuchlich gewesen.

Auf die Berufung der Kläger änderte das Landgericht Hannover als zweitinstanzlich zuständiges Gericht die amtsgerichtliche Entscheidung mit Urteil vom 05.07.2022, Az. 9 S 16/21, teilweise ab. Es verurteilte den Beklagten zur Rückzahlung der für den Zusatzauftrag „Wakaflex“ gezahlten Vergütung in Höhe von 1.164,38 €.

Gegen das Urteil des Landgerichts legte der Beklagte die Revision zum Bundesgerichtshof ein mit dem Ziel, weiterhin die vollständige Abweisung der Klage erreichen.

Ergebnis: Wie entschied der Bundesgerichtshof?

Der Bundesgerichtshof hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zurück an das Landgericht Hannover, soweit dieses zum Nachteil des Beklagten erkannt hatte.

Hinsichtlich der zusätzlichen „Wakaflex“-Arbeiten liege kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 BGB vor, den Klägern gegenüber dem Beklagten ein Widerrufsrecht verschafft haben könnte.

Unbeanstandete Feststellungen des Landgerichts

Der Bundesgerichtshof ließ folgende Feststellungen des Landgerichts Hannover unbeanstandet:

  • Es handele sich nicht um einen Verbraucherbauvertrag nach § 650i Abs. 1 BGB, da Vertragsgegenstand keine erheblichen Umbaumaßnahmen seien.
  • Da die Kläger über ihr Widerrufsrecht nicht belehrt worden seien, habe sich die Widerrufsfrist auf ein Jahr und 14 Tage verlängert und sei mithin erst am 5. September 2019 abgelaufen.
  • 355 Abs. 1 Satz 5 BGB, wonach es auf die rechtzeitige Absendung des Widerrufs ankomme, gelte auch für die „lange Widerrufsfrist“ im Fall einer fehlenden Belehrung.
  • Für die Abdichtungsarbeiten schuldeten die Kläger – im Fall eines wirksamen Widerrufs – keinen Wertersatz, da sie nicht über die Bedingungen, die Fristen und die Ausübung des Widerrufsrechts sowie das Muster-Widerrufsformular unterrichtet worden seien.
  • Letztlich habe es der Unternehmer in der Hand, durch Vorhaltung entsprechender Formulare vor Ort die Widerrufsbelehrung sowie die Belehrung über die Folgen einer Ausführung des Vertrags vor Ablauf der Widerrufsfrist vorzunehmen und sich hierdurch vor den sich ergebenden Rechtsfolgen bei vorzeitiger Ausführung vor Ablauf der Widerrufsfrist zu schützen.

Eigenständiges Widerrufsrecht denkbar

Die mit dem Zusatzauftrag „Wakaflex“ in Auftrag gegebenen Arbeiten seien vom ursprünglich erteilten Auftrag an den Beklagten, der die Erneuerung von Dachrinnen und Abdichtungsarbeiten im Eingangsbereich des Hauses betraf, nicht umfasst gewesen. Hinsichtlich der Reparatur des defekten Wandanschlusses hätten die Parteien einen weiteren Vertrag geschlossen. In Bezug hierauf könne den Klägern als Verbrauchern grundsätzlich ein eigenständiges Widerrufsrecht zustehen. Zu Recht habe das Berufungsgericht geprüft, ob den Klägern gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB i.V.m. § 312b Abs. 1 BGB hinsichtlich des Zusatzauftrags „Wakaflex“ unabhängig von dem ersten Auftrag ein Widerrufsrecht zustand.

Hier aber kein Vertragsschluss vor Ort

Hier aber liege kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 BGB vor. Zugunsten des Beklagten sei davon auszugehen, dass der Kläger das vom Beklagten bereits am 22. August 2018 unterbreitete Angebot für den Zusatzauftrag „Wakaflex“ am 23. August 2018 lediglich angenommen habe.

Der Vertrag „Wakaflex“ sei daher nicht bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien geschlossen worden:

„Hierfür ist erforderlich, dass sowohl das Angebot als auch die Annahme bei gleichzeitiger Anwesenheit der Vertragspartner erklärt werden. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Kläger hat nach dem für das Revisionsverfahren zu unterstellenden Vorbringen des Beklagten für beide Kläger in dem Termin vor Ort in Anwesenheit des Beklagten lediglich dessen am Tag zuvor abgegebenes Angebot für die Reparatur des beschädigten Wandanschlusses angenommen.“

Erforderlich sei, dass der Vertrag bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort geschlossen werde. Bei einem zeitlichen Versatz zwischen Angebot und Annahme sei das aber nicht der Fall:

„(1) Eine gegenüber dem Angebot des Unternehmers derart zeitlich versetzte Auftragserteilung wird von § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB nicht erfasst. Diese Vorschrift, mit der die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 (Verbraucherrechterichtlinie) ins deutsche Recht umgesetzt wird und die mit der Bestimmung in Art. 2 Nr. 8 a) der Verbraucherrechterichtlinie inhaltlich übereinstimmt, ist richtlinienkonform im Lichte dieser Richtlinie auszulegen, wobei bei der Auslegung zu beachten ist, dass nach Art. 4 der Richtlinie eine Vollharmonisierung der zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Vorschriften angestrebt wird. Ein Vertragsschluss bei gleichzeitiger Anwesenheit der Parteien außerhalb von Geschäftsräumen liegt danach nicht vor, wenn der Verbraucher ein vom Unternehmer am Vortag unterbreitetes Angebot am Folgetag außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt (vgl. auch OLG Köln, Urteil vom 16. Dezember 2021 – 7 U 12/20, BauR 2022, 1358= NZBau 2022, 222, juris Rn. 40; Grüneberg/Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 312b Rn. 6; Staudinger/Thüsing (2019) BGB, § 312b Rn. 19; Maume in: BeckOK BGB Hau/Poseck, Stand: 1. Mai 2023, § 312b Rn. 17).

(2) Für diese – schon nach dem Wortlaut naheliegende – Auslegung von § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB spricht auch der mit der Verbraucherrechterichtlinie verfolgte Zweck. Aus dem Erwägungsgrund Nr. 21 der Richtlinie ergibt sich, dass von der Begriffsbestimmung für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge Situationen nicht erfasst werden sollen, in denen der Unternehmer zunächst in die Wohnung des Verbrauchers kommt, um ohne jede Verpflichtung des Verbrauchers lediglich Maße aufzunehmen oder eine Schätzung vorzunehmen, und der Vertrag danach erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Geschäftsräumen des Unternehmers auf der Grundlage der Schätzung des Unternehmers abgeschlossen wird. Dies wird damit begründet, dass der Verbraucher in einem solchen Fall Gelegenheit hatte, vor Vertragsschluss über die Schätzung des Unternehmers nachzudenken.

Die dieser Situation zugrundeliegende rechtliche Wertung erfasst auch den Fall, dass der Unternehmer dem Verbraucher aufgrund eines Aufmaßes oder einer Schätzung ein Angebot unterbreitet, das der Verbraucher nach einer Überlegungszeit bei gleichzeitiger Anwesenheit mit dem Unternehmer außerhalb von Geschäftsräumen lediglich annimmt. Auch in diesem Fall entstehen dem Verbraucher durch das vom Unternehmer erstellte Angebot unmittelbar noch keine Verpflichtungen. Findet eine Vertragsverhandlung nicht sofort im Anschluss an das Angebot statt, sondern hat der Verbraucher Gelegenheit, das Angebot des Unternehmers zu prüfen und zu überdenken, ist nach dem mit der Verbraucherrechterichtlinie verfolgten Schutzzweck der Tatbestand des bei gleichzeitiger Anwesenheit der Vertragsparteien außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags nicht erfüllt (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 312b Rn. 6). Eine typische Druck- oder Überraschungssituation im Sinne von Erwägungsgrund Nr. 21 der Verbraucherrechterichtlinie, vor der § 312b BGB schützen soll, liegt dann nicht vor.

[…]

(3) Danach stand den Klägern nach dem zugunsten des Beklagten in der Revision zu unterstellenden Sachverhalt hinsichtlich des Zusatzauftrags ‚Wakaflex‘ kein Widerrufsrecht gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1, § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB zu. Die Kläger sind dadurch, dass der Beklagte ihnen die Modalitäten für die Ausführung des Zusatzauftrags und die hierfür entstehenden Kosten in Form eines Angebots am 22. August 2018 mitgeteilt hatte, in die Lage versetzt worden, das Angebot bis zu dessen Annahme am 23. August 2018 zu überdenken.“

Auch kein Angebot der Kläger außerhalb von Geschäftsräumen

Es liege auch kein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag im Sinne des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB vor. Die Kläger als Verbraucher hätten kein Angebot außerhalb von Geschäftsräumen unter den in § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB genannten Umständen abgegeben. Das Angebot im Rechtssinne stamme vielmehr vom Beklagten. Bei der Erklärung der Kläger handele es sich um die Annahmeerklärung:

„Die Kläger haben nicht lediglich gemäß § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB ein Angebot abgegeben, das der Beklagte zu einem späteren Zeitpunkt angenommen hat. Die Vorschrift kann über ihren Wortlaut hinaus auch nicht dahin ausgelegt werden, dass jedwede Vertragserklärung des Verbrauchers – also auch, wie hier, eine Annahmeerklärung – erfasst werden soll, die dieser bei gleichzeitiger Anwesenheit mit dem Unternehmer an einem nicht zum Geschäftsraum des Unternehmers gehörenden Ort abgibt (vgl. in diesem Sinn aber Ring in: Dauner-Lieb/Langen, BGB Schuldrecht, 4. Aufl., § 312b Rn. 19; HK-BGB/Schulte-Nölke, 11. Aufl., BGB § 312b, 6; unklar insoweit: MünchKommBGB/Wendehorst, 9. Aufl., § 312b Rn. 38 und Schinkels in Gebauer/Wiedmann, Europäisches Zivilrecht, 3. Aufl., Kap. 8 Rn. 8). Im Hinblick auf die mit der Verbraucherrechterichtlinie angestrebte Vollharmonisierung (Art. 4 der Verbraucherrechterichtlinie ) kommt eine erweiternde Auslegung über den Wortlaut des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB hinaus nicht in Betracht. Der Begriff ‚Angebot‘ in § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB, der dem Wortlaut des Art. 2 Nr. 8 b) der Verbraucherrechterichtlinie entspricht, findet sich entsprechend auch in anderen Sprachfassungen der Verbraucherrechterichtlinie (vgl. z.B. ‚offer‘, ‚offre“, „offerta‘, ‚oferta‘, ‚aanbod‘). Er bezieht sich auf das für den Verbraucher bindende Angebot auf Abschluss eines Vertrags. Der Begriff des Angebots kann mit dem Begriff der Vertragserklärung dagegen nicht gleichgesetzt werden. Dieser wird vielmehr als Oberbegriff sowohl für ein auf den Abschluss eines Vertrags gerichtetes Angebot als auch für eine Annahme eines solchen verwendet.“

Auch hier: Gleichzeitigkeit erforderlich

„Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Sinn und Zweck der Verbraucherrechterichtlinie auch die Annahme eines vom Unternehmer nicht am selben Tag, sondern bereits zuvor, unterbreiteten Angebots von der Vorschrift erfasst werden soll, bestehen nach den vorstehenden Ausführungen nicht. Insbesondere besteht in einem solchen Fall nicht die Gefahr, dass der Verbraucher durch die Umstände des Vertragsschlusses zum Abschluss des Vertrags veranlasst wird, ohne zuvor seine Entscheidung hinreichend überdenken zu können. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 2 Nr. 8 b) der Verbraucherrechterichtlinie ist nicht geboten, weil die Auslegung des § 312b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB unter Berücksichtigung der Vorschriften der Verbraucherrechterichtlinie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 – C- 561/19, NZBau 2022, 44 [OLG Köln 01.07.2021 – 7 U 117/20], juris Rn. 33 m.w.N.; Urteil vom 6. Oktober 1982 – C-283/81, Slg. 1982, 3415).“

Dringende Reparatur- oder Instandhaltungsmaßnahmen?

Die Ausnahmevorschrift des § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB, die einen vollständigen Ausschluss des Widerrufsrechts zur Folge hat, beziehe sich nur auf dringende Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen. Dass die Ausführung des Zusatzauftrags im Hinblick auf das bereits stehende Gerüst wirtschaftlich sinnvoll gewesen sein mag, genüge nicht, um einen dringenden Reparaturbedarf im Sinne der Rechtsvorschrift zu begründen.

Einwurf des Widerrufsschreibens in den Briefkasten genügt

Um die Widerrufsfrist einzuhalten, genüge es, das Widerrufsschreiben vor Ablauf der Widerrufsfrist in den Briefkasten des Widerrufsadressaten – hier des beklagten Handwerkers – einzuwerfen. Der hier maßgebliche § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB erfasse nicht nur den Fall, dass der Verbraucher seine verkörperte Widerrufserklärung per Briefpost aufgebe:

„Nach Art. 11 Abs. 2 der Verbraucherrechterichtlinie ist die Widerrufsfrist gewahrt, wenn der Verbraucher die Mitteilung über die Ausübung des Widerrufsrechts vor Ablauf der Widerrufsfrist absendet. Damit ist bei einer in Text- oder Schriftform verkörperten Willenserklärung der Zeitpunkt der Absendung maßgeblich. Nichts spricht dafür, dass damit ausschließlich ein Versand gerade per Briefpost maßgeblich sein soll. Das muss daher auch für die vollharmonisierte nationale Regelung in § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB gelten. Selbst wenn – wie die Revision meint – Sinn und Zweck der Norm darin liegen sollten, den Verbraucher von dem Risiko freizustellen, dass der Widerruf aufgrund nicht vorhersehbarer längerer Postlaufzeiten nicht rechtzeitig zugehe, ist nicht nachvollziehbar, weshalb eine andere Übermittlungsform als der Postversand, insbesondere ein (rechtzeitiges) Einlegen in den Empfängerbriefkasten, keine tatbestandlich beachtliche Absendung gemäß § 355 Abs. 1 Satz 5 BGB darstellen soll. Die von der Revision angeführten Kommentarstellen (BeckOK-Mörsdorf, Stand: 1. Juni 2022, § 355 BGB Rn. 57; BeckOK-BGB/Müller-Christmann, Stand: 1. Mai 2023, § 355 Rn. 31; MünchKommBGB/Fritsche, 9. Aufl., § 355 Rn. 57) stützen den Rechtsstandpunkt der Revision, dass nur die Absendung per Briefpost beachtlich sein soll, ebenfalls nicht.“

Kein Rechtsmissbrauch durch Ausübung des Widerrufsrechts

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht Hannover als Berufungsgericht abweichend vom erstinstanzlichen Urteil den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) verneint hat, hielten der Revision ebenfalls stand:

„Die im Einzelfall vorzunehmende wertende Betrachtung der Gesamtumstände unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB obliegt in erster Linie dem Tatgericht und kann vom Revisionsgericht nur eingeschränkt daraufhin überprüft werden, ob das Tatgericht die maßgeblichen Tatsachen vollständig festgestellt und gewürdigt und ob es die allgemein anerkannten Maßstäbe berücksichtigt und richtig angewandt hat (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2021 – I ZR 248/19 Rn. 28, NJW 2022, 52). Einen in diesem Sinn – insbesondere auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Mai 2023 – C-97/22, ZIP 2023, 1190, juris Rn. 21 ff.; Urteil vom 26. Februar 2019 – C-116/16, juris Rn. 70 ff.; Urteil vom 8. Juni 2017 – C-54/16, WM 2017, 1607, juris Rn. 51 ff.) – beachtlichen Rechtsfehler zeigt die Revision nicht auf.“

Auswirkung auf die Praxis

Sieben auf einen Streich – das BGH-Urteil vom 06.07.2023 ist für Handwerker, die ihre Leistungen auch vor Ort bei der Kundschaft anbieten und ausführen, damit vor allem für die Baubranche, von großer praktischer Bedeutung: Es behandelt alle sieben Themen, die in der Praxis immer wieder für Ärger sorgen, nämlich

  • das Widerrufsrecht für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge,
  • das Widerrufsrecht für dringende Handwerkerleistungen,
  • die Widerrufsbelehrung mit Widerrufsformular,
  • die Belehrung über den Wertersatz nach einem Widerruf,
  • die Form der Widerrufserklärung,
  • die Widerrufsfrist,
  • und schließlich den Rechtsmissbrauch des Auftraggebers im Zusammenhang mit der Ausübung des Widerrufsrechts.

Die Ausführungen zu außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und zum Erfordernis gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort bei Vertragsschluss zeigen: Es lohnt sich, genau hinzusehen, die exakte Reihenfolge der Ereignisse festzustellen und juristisch präzise zwischen Angebot und Annahmeerklärung zu unterscheiden.

Aber auch die Feststellungen des Landgerichts Hannover, die der Bundesgerichtshof nicht weiter beanstandet hat, sind es wert, beachtet zu werden. Vor allem gilt das für die organisatorische Vorbereitung von Vor-Ort-Terminen bei der Kundschaft, aber auch für Vertragsabschlüsse auf Messen:

Hier gilt es,

  • einen strengen, durch Checklisten gestützten „Workflow“ zu schaffen, mit dem gewährleistet wird, dass der Kundschaft unter allen Umständen, rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form die erforderlichen fernabsatzrechtlichen Pflichtinformationen – allen voran die Widerrufsbelehrung mit dem Widerrufsformular und die Belehrung über die Wertersatzpflicht – zugeleitet werden
  • und hierzu die erforderlichen Textmuster und Formulare zu erstellen.

Praxisgerecht ist es beispielsweise, diese fernabsatzrechtlichen Pflichtinformationen auf der Rückseite des Auftragsformulars anzubringen, und auf der Vorderseite einen deutlichen Hinweis hierauf anzubringen. Es muss dann gewährleistet werden, dass bei Terminen vor Ort und auf Messen ausschließlich diese Formulare – und nicht etwa im freien Handel erhältliche Schreibblöcke oder gar Schmierzettel – verwendet werden.

 

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