Filesharing-Urteil: Sekundäre Darlegungslast und Vertrauensvorschuss bei Familie

Filesharing über den Familien-Internetanschluss, sekundäre Darlegungslast der beklagten Partei und Zeugnisverweigerungsrecht des Kindes – das Amtsgericht Kassel entschied mit Urteil vom 04.04.2017, Az. 410 C 1977/16: Erwachsene Familienangehörige genießen grundsätzlich einen so hohen Vertrauensvorschuss, das eine Überwachung, Kontrolle und/oder Nachrecherche durch den Anschlussinhaber regelmäßig nicht geboten ist, so lange nicht ein konkreter Anlass besteht. Deswegen darf ihnen der uneingeschränkten Zugang zum Internetanschluss gestattet werden. Für die Erfüllung der vorgenannten sekundären Darlegungslast ist keine Darlegung erforderlich, in welchem Umfang und zu welchen Zeiten das Familienmitglied den Internetanschluss der Beklagten nutzte. Macht dann das Familienmitglied von einem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, geht dies zum Nachteil der klagenden Rechteinhaberin und nicht zum Nachteil des beklagten Anschlussinhabers aus.

Filesharing über Familienanschluss – was war geschehen?

Die Klägerin ist Inhaberin Rechte an dem Computerspiel „Risen 2“ für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die nun beklagte Anschlussinhaberin gab nach einer P2P-Filesharing-Abmahnung nur eine modifizierte Unterlassungserklärung ab, verweigerte aber jede Zahlung. Die Klägerin machte deswegen den Ersatz der Abmahnkosten in Höhe von 555,60 € und Schadensersatz im Wege der Lizenzanalogie in Höhe von weitere 697,40 € gerichtlich geltend.

Die Anschlussinhaberin verteidigte sich gegen die Klage damit, sie selbst habe den Vorgang nicht begangen. Ihr Internetanschluss sei darüber hinaus nicht nur von ihr selbst, sondern auch von ihrem seinerzeit 19-jährigen Sohn genutzt worden.

In der Beweisaufnahme verweigerte der als Zeuge geladene Sohn der Beklagten seine Aussage unter Berufung auf das ihm nach § 383 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zustehende Zeugnisverweigerungsrecht.

Wie entschied das Gericht?

Das Gericht entschied zugunsten der beklagten Anschlussinhaberin und wies die Klage ab.

Die Klägerin habe gegen die Beklagte keine Ansprüche aus § 97, 97 a UrhG. Die Beklagte habe ihre sekundäre Darlegungslast erfüllt und die zunächst gegen sie als Anschlussinhaberin sprechende tatsächliche Vermutung der Täterschaft widerlegt.

Wegen der sekundären Darlegungslast müsse der Anschlussinhaber zumindest darlegen, dass eine andere Person ernsthaft als Anschlussnutzer in Betracht kommt. Aber:

„Dabei ist nicht zu verlangen, dass in jedem Fall das konkrete Nutzungsverhalten eines potenziellen Alternativtäters in Gestalt eines Mitbenutzers des Internetanschlusses detailliert beschrieben wird. Denn regelmäßig kann ein Internetanschluss auch ohne unmittelbare Beteiligung des Anschlussinhabers benutzt werden. Kontroll-, Überwachungs- und Recherchepflichten des Anschlussinhabers bestehen zwar grundsätzlich, jedoch in unterschiedlicher Intensität abhängig vom Nähe- und Vertrauensverhältnis zum potenziellen Alternativtäter. Im Falle von Familienangehörigen bedeutet dies, dass erwachsene Familienangehörige grundsätzlich einen so hohen Vertrauensvorschuss genießen, das eine Überwachung, Kontrolle und/oder Nachrecherche regelmäßig nicht geboten ist, so lange nicht ein konkreter Anlass besteht, gleichwohl im vorgenannten Sinne tätig zu werden. Dies folgt aus dem grundgesetzlich verbürgten Schutz von Ehe und Familie. Artikel 6 GG verbietet es, im Interesse eines Dritten die familiären Verhältnisse durch die vorgenannten Pflichten anlasslos zu strapazieren.“

Zu dem Umfang der sekundären Darlegungslast, wie er von der beklagten Anschlussinhaberin im Prozess verlangt werden konnte, führte das Amtsgericht Kassel aus:

„Der volljährige Sohn der Beklagten wohnte zum Zeitpunkt des hier streitgegenständlichen Vorfalles in der Wohnung der Beklagten. Da ein Anlass zur Kontrolle nicht erkennbar ist, durften die Beklagten ihm deswegen den uneingeschränkten Zugang zu ihrem Internetanschluss gestatten. Für die Erfüllung der vorgenannten sekundären Darlegungslast genügt es, diesen Zustand zu beschreiben. Es bedarf keiner Darlegung, in welchem Umfang und zu welchen Zeiten der Zeuge den Internetanschluss der Beklagten nutzte. Würde man solches verlangen, erreichte man jedoch den durch die grundgesetzliche Regelung geschützten Bereich. Denn grundsätzlich bedarf es keiner so engmaschigen Kontrolle der Familie.“

Aber auch der zeitliche Abstand zwischen dem Datum des vorgeworfenen Rechtsverstoßes und der Abmahnung spielt eine Rolle, wie das Gericht unmittelbar anschließend ausführt:

„Eine genauere Rekonstruktion ist jedenfalls bei dem hier zwischen Vorfall und Abmahnung verstrich einen Zeitraum von ca. fünf Monaten nicht zu verlangen, da dies bei alltäglichen Vorgängen praktisch unmöglich ist, weil die Erinnerung ohne ein herausragendes und deswegen sich eingetretenes Ereignis zu schnell verblasst.“

Die beklagte Anschlussinhaberin habe auf diese Weise ihre sekundäre Darlegungslast erfüllt – es sei nun Sache der Klägerin gewesen, den weiteren Beweis für die Täterschaft der Beklagten als Anschlussinhaberin anzutreten. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Sohnes wirke sich zum Nachteil der Klägerin und nicht zum Nachteil der beklagten Anschlussinhaberin aus:

„Dieser hat jedoch von seinem Aussageverweigerungsrecht gem. § 383 Abs. 1 Nr. 3 ZPO Gebrauch gemacht. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Klägerin hinsichtlich der Täterschaft der beiden Beklagten beweisfällig geblieben ist. Dieser Befund führt wiederum nicht dazu, dass den Beklagten ihrerseits der Nachweis für die tatsächlichen Gegebenheiten der durch sie erfolgten Vermutungswiederlegung aufzubürden. Denn dies würde zu einer Umkehr der Beweislast im Ergebnis führen, welche weder vom Gesetz vorgesehen noch von den tatsächlichen Gegebenheiten her geboten ist.“

Welche Auswirkung hat das Urteil auf die Praxis im Filesharing-Prozess?

Tatsächliche Vermutung der Täterschaft, sekundäre Darlegungslast des Anschlussinhabers und weiterhin keine wirkliche Klarheit und Rechtssicherheit: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann der beklagte Anschlussinhaber im Filesharing-Prozess die gegen ihn sprechende tatsächliche Vermutung der Täterschaft widerlegen, indem er darlegt, dass andere Personen Zugang zu dem Internetanschluss hatten und als Täter in Betracht kommen. Dabei, so der Bundesgerichtshof, genügt es aber nicht, wenn der Anschlussinhaber eine „bloß theoretische “ Möglichkeit in den Raum stellt, dass eine andere Person den Anschluss ebenfalls benutzen konnte und deshalb als Täter in Betracht kommt. Der Anschlussinhaber muss vielmehr nach dieser Rechtsprechung konkrete Angaben zum Nutzungsverhalten im Zeitpunkt der Rechtsverletzung machen.

Nur: Wo genau diese Grenze zwischen der nicht ausreichenden „bloß theoretischen“ Möglichkeit und der ausreichenden konkreten Möglichkeit liegen soll, sagt der BGH nicht. Dies herauszufinden, überlässt der Bundesgerichtshof in jedem Einzelfall den Richterinnen und Richtern der Amts- und Landgerichte. Deren Entscheidungen sind nicht immer lebensnah. Lebensalter und Dienstjahre, technisches Verständnis für die Funktion eines WLAN, eigenes Nutzerverhalten und allgemeine Einstellung gegenüber dem „Neuland“ Internet prägen deren Einstellung, welche Recherchen dem Anschlussinhaber nach einer Filesharing-Abmahnung zuzumuten sind. So jedenfalls macht es häufig den Eindruck.

Ihnen allen seien die aus dem Leben gegriffenen Erwägungen des Amtsgerichts Kassel ins Stammbüchlein geschrieben.

Und mehr noch: Internet-Nutzung im Jahr 2017 ist etwas anderes als Fernsehen im Jahr 1977: Nicht mehr bloß „Flipper“ am Nachmittag und „Bonanza“ an Vorabend, sondern Surfen, Mailen, Chatten im 24/7-Modus. Wer wann genau und womit online beschäftigt war, ist sofort wieder vergessen. Diese Erkenntnis sollte die Abgrenzung zwischen der „bloß theoretischen“ Möglichkeit der Mitbenutzung und dem rechtlich relevanten Alternativablauf tragen – damit am Ende eine Rechtsverteidigung gegen eine Filesharing-Klage nicht nur „bloß theoretisch“ und unter Laborbedingungen, sondern auch im wirklichen Leben möglich bleibt.

 

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